In unseren Händen

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In meinen letzten Beiträgen habe ich viel darüber geschrieben was wir aus der aktuellen Krise lernen können und welche Chancen sich in Bezug auf unser Verhalten und das Miteinander in unserer Gesellschaft daraus ergeben. Zwei Erlebnisse haben mich diesbezüglich in den letzten Tagen nachdenklich gemacht.

Zum einen ein Kommentar von Karl-Markus Gauß in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Die Krise ist keine moralische Erziehungsanstalt“ und einer dazugehörigen Leserdiskussion zur Frage „Macht uns die Krise zu besseren Menschen?„. Zum anderen ein Gespräch mit einem Bekannten aus meiner Nachbarschaft. Aber der Reihe nach…

Der Kommentar in der SZ trifft einen wichtigen Punkt, der auch zu vielen meiner Beobachtungen der letzten Zeit passt. Wir sehen noch keine signifikante Verhaltensänderung hin zu mehr Solidarität und Zusammenhalt um uns herum, teilweise sogar eher das Gegenteil. Hamsterkäufe, die angekündigte (und nach Shitstorm wieder revidierte) Aussetzung der Mietzahlungen von Adidas oder der Boom von großen Versandhändlern wie Amazon während kleine Läden unter der Krise leiden sind nur einige Beispiele. Und es lässt sich trefflich darüber streiten, ob sich in Zukunft etwas daran ändert.

Was mich an der Fragestellung „Macht uns die Krise zu besseren Menschen“ stört ist die passive Rolle, die uns darin zugeschrieben wird. Die Krise würde uns zu etwas machen. Stattdessen geht es doch darum, was wir mit der Krise machen! „Die Krise“ lebt nicht, sie ändert nichts von selbst zum Guten oder Schlechten – da müssen wir schon selbst ran. Wir sind Menschen, die jeden Tag entscheiden, wie wir handeln, wie wir uns verhalten. Die Handlungsmacht, wie wir mit dieser Krise umgehen, was wir bereit sind zu verändern, bleibt bei uns. Immer. Bei jeder einzelnen kleinen oder großen Entscheidung die wir treffen. Diese Fähigkeit unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Sie gibt uns die Kraft und Möglichkeit etwas zum Positiven zu ändern. Wenn wir uns dieser Handlungsmacht bewusst sind kann die Krise ein Auslöser, ein Beschleuniger für Veränderung sein.

Hinzu kommt eine zweite Sichtweise, die entscheidend ist, Verantwortung für die aus unserer Sicht notwendigen Entwicklungen zu übernehmen: Es sind nicht immer die anderen. Wenn wir primär auf das Verhalten unserer Mitmenschen schauen, anstatt uns selbst zu hinterfragen, bewegen wir uns in einem Teufelskreis: den größten Einfluss haben wir auf Veränderungen bei uns selbst. Wenn wir aber der Ansicht sind, dass es nicht an uns, sondern an den anderen liegt, ändern wir nichts und alles bleibt wie es ist. Wir können selbst mit einem positiven Beispiel vorangehen. Wenn wir uns so verhalten, wie wir es uns von anderen wünschen, beginnt eine positive Entwicklung. Es geht nicht darum, sich selbst zu verurteilen, sondern um einen wertschätzenden aber auch selbstkritischen Blick in den Spiegel mit der Frage „Habe ich heute die Veränderung gelebt, die ich mir in der Welt wünsche?“ Dann kann aus der Krise anstatt einer „moralischen Erziehungsanstalt“ eine weltweite Gelegenheit für persönliches und gesellschaftliches Wachstum werden.

Womit wir bei meinem zweiten Erlebnis wären – dem Gespräch mit meinem Bekannten. Ich hatte ihm in wenigen Sätzen gesagt, dass ich die Chance sehe, dass wir in Zukunft mehr zusammenhalten, offener füreinander werden. Seine Antwort darauf war: „Weißt du, ich habe leider die Erfahrung gemacht, wenn du ein offener, herzlicher Mensch bist, wird das so oft ausgenutzt, bis du damit aufhörst.“ Das musste ich erst einmal verdauen. Was für mich aus diesem Satz ankam waren Verletzungen, Enttäuschungen, Kränkungen, die wir alle in uns herumtragen. Die uns das Vertrauen in andere Menschen genommen haben. Die dazu führen, dass wir uns nicht mehr trauen, uns offen, herzlich, menschlich zu begegnen. Die unsere gewünschten Werte wie Hilfsbereitschaft, Respekt, Offenheit oder Zusammenhalt still und leise untergraben. Wie oft, wenn uns jemand anders behandelt, als wir uns das wünschen, verurteilen wir ihn oder sie dafür. Sehen Ignoranz, Rücksichtslosigkeit, Unfreundlichkeit. Weil wir das tieferliegende, das zu diesem Verhalten geführt hat, nicht sehen und auch nicht wissen können.

Im Alltag fällt es uns schwer und es ist auch nicht immer möglich, bei unguten Begegnungen nachzufragen, warum sich unser Gegenüber so verhält. Aber selbst wenn wir die Zeit oder die Nerven gerade nicht haben, darauf einzugehen. Uns bewusst zu machen, dass jeder sein berühmtes „Päckchen“ mit sich herumschleppt, dass aus einer unfreundlichen Reaktion sehr oft eine eigene Kränkung oder belastende Erfahrung spricht, würde uns in doppelter Hinsicht helfen. Zum einen schonen wir unsere eigenen Nerven, weil uns Mitgefühl im Gegensatz zu Verurteilung emotional nicht auf 180 bringt. Zum anderen reagieren wir dann eher so, wie wir es uns von anderen wünschen. Und leisten alleine dadurch schon einen Beitrag zu einem positiveren Miteinander.

Sich trotz schmerzhafter Erfahrungen und Vertrauensverlusten wieder zu trauen aufeinander zuzugehen, braucht Zeit. Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt und all die Dinge, die wir uns so sehr voneinander wünschen, wachsen nicht über Nacht. Auch sie brauchen Zeit. Viel Zeit sogar. Das ist mir bei dem Gespräch mit meinem Bekannten wieder bewusst geworden – erst recht, wenn ich mir seinen dazugehörigen Blick in Erinnerung rufe. Es geht jetzt nicht ums Ankommen bei einem neuen Miteinander sondern um das Anfangen. Indem wir die kleine Hoffnung behalten, dass unsere Offenheit und Hilfsbereitschaft nicht ausgenutzt wird. Indem wir uns wieder mehr trauen, anderen zu vertrauen. Das dauert, wir brauchen genau wie bei der Bewältigung der Krise einen langen Atem. Und jeder Einzelne kann einen Beitrag leisten. Sich selbst trauen, sich zu öffnen. Anderen, die sich uns anvertrauen das gute Gefühl geben, dass ihre Offenheit keine Schwäche ist, dass sie nicht ausgenutzt wird. Es wird Rückschläge geben, nicht alle Erfahrungen werden positiv sein. Lasst uns trotzdem weitermachen und uns an den positiven Erfahrungen festhalten. Unsere Zukunft liegt in unseren Händen.