Was uns verbindet

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„Eine Gesellschaft in der wir nicht all das betonen, was uns voneinander trennt und unterscheidet, sondern auf die unendlich vielen Dinge schauen, die uns Menschen miteinander verbinden.“ – das war ein Wunsch in einem meiner letzten Blog-Beiträge.

In meiner Tätigkeit habe ich das große Privileg, regelmäßig mit ganz unterschiedlichen Teams zu arbeiten – und sehr oft geht es in Team-Workshops um die Fragen „Was ist euch in der Zusammenarbeit wichtig? Was wünscht ihr euch für die zukünftige Zusammenarbeit?“. Aktuell können diese Workshops nicht stattfinden und ich merke zunehmend, wie sehr mir diese Arbeit fehlt. Es gibt mir unglaublich viel positive Energie, wenn wir uns nach ein oder zwei Tagen Workshop wieder verabschieden und man spürt: da ist in der Gruppe und bei vielen Teilnehmern etwas in Bewegung gekommen. Die jetzt entstehende Auszeit bestätigt zum einen meine Überzeugung, wie sehr ich meine Arbeit liebe, zum anderen ermöglicht sie mir, einmal zurückzuschauen auf die Ergebnisse von Workshops mit ganz unterschiedlichen Teams. Und so der Antwort auf die Frage „Was verbindet uns eigentlich?“ ein Stück näher zu kommen.

Stichprobe: 10 Workshops

Ich hatte das Gefühl, dass es bei den Antworten von Teams auf die Frage nach Wünschen in der Zusammenarbeit unabhängig von Faktoren wie Region, Branche, Tätigkeitsfeld, Geschlechterverteilung oder Altersstufen eine große Schnittmenge gibt. Um zu prüfen, wie sehr mein Gefühl den tatsächlichen Ergebnissen entspricht, habe ich 10 Workshops mit einer möglichst breiten Streuung dieser Faktoren ausgewählt und die Antworten auf die zwei Fragen „Was ist euch in der Zusammenarbeit wichtig?“ und „Was wünscht ihr euch für die zukünftige Zusammenarbeit?“ analysiert. Ergebnis: Eine Übereinstimmung von 80-100% bei 5 Punkten. Das heißt bei 8 bis 10 der insgesamt 10 Workshops wurden die folgenden Wünsche genannt:

  • Gutes Arbeitsklima mit den Kollegen
  • Offenheit im Umgang miteinander
  • Respektvoller Umgang
  • Hilfsbereitschaft
  • Zusammenhalt

Die wesentlichen Werten verbinden uns

Die wesentliche und zugleich sehr schöne Erkenntnis daraus ist für mich ist: egal wie alt wir sind, egal ob männlich oder weiblich, egal welchen Beruf wir ausüben, egal ob wir in Deutschland oder anderswo geboren sind, egal ob wir im Norden, Süden, Osten oder Westen Deutschlands leben: so unterschiedlich wir als Individuen auch sein mögen, so sehr sich unsere Prägungen und Charaktere auch unterscheiden – unter dem Strich sind uns die gleichen Dinge wichtig. Das verbindet uns. Das gibt uns allen zusammen die Chance, diese Werte in Zukunft noch stärker zu leben – weil es unser gemeinsamer Wunsch ist.

Was hindert uns daran, auch danach zu leben?

Mehr als einmal sind in einer Kaffeepause, nachdem wir die Wünsche des Teams besprochen hatten, Teilnehmer auf mich zugekommen und haben mich gefragt: „Es ist schon interessant – uns allen sind die gleichen Themen wichtig, warum gelingt es uns dann so selten, sie im Alltag zu leben?“ Gute Frage finde ich… Nicht nur für das Berufsleben, wir können uns diese Frage genauso für das Miteinander in unserer Gesellschaft stellen. Dort wünschen wir uns schließlich auch einen respektvollen Umgang, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt. Wir wünschen uns auch, dass andere freundlich zu uns sind und in der Familie, auf dem Konzert oder im Supermarkt ein angenehmes Miteinander herrscht. Und ähnlich wie im Mikrokosmos der einzelnen Team gilt auch für die Gesellschaft: so sehr uns der gemeinsame Wunsch auch verbindet, die Realität sieht oft anders aus

Angst frisst Werte auf

Die Antworten auf die Frage, was uns daran hindert, die gewünschten Werte auch zu leben, sind natürlich nicht einfach zu finden. Schon gar nicht pauschal, da jeder Mensch und jede Situation, in der wir reagieren individuell ist. Aber es gibt Faktoren, die eine wichtige Rolle spielen, dass es uns nicht immer gelingt, nach unseren Werten und Wünschen zu handeln. Die in Krisen-Situationen wie aktuell sogar zu paradoxen Szenarien führen, nämlich dass wir uns Hilfsbereitschaft, Respekt und Zusammenhalt sehr stark wünschen – und sie umso weniger leben. Weil wir Angst haben.

Angst davor, dass sich die anderen nicht hilfsbereit verhalten – und wir ausgenutzt werden. Angst davor, dass sich die anderen nicht respektvoll verhalten – und wir verletzt werden. Angst, dass wir uns nicht auf andere verlassen können, es keinen Zusammenhalt gibt. Angst, dass andere nicht offen und ehrlich mit uns sind – und unsere Offenheit und Ehrlichkeit als Schwächen gesehen und ausgenutzt werden. Angst davor, dass wir unseren Job, unser Einkommen, unsere Ersparnisse verlieren – und wir es uns nicht leisten können, jetzt lokale Läden zu unterstützen und stattdessen beim günstigeren Online-Marktplatz einkaufen.

„Angst ist das Schlimmste im menschlichen Leben“ – ein Zitat von Heiner Geißler. Natürlich hat Angst eine Daseinsberechtigung, sie schützt uns vor zu riskanten Handlungen, davor, dass wir ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springen. Aber sie führt auch zu irrationalen Überreaktionen. Sie verhindert solidarisches, respektvolles Handeln. Sie verhindert, dass wir uns so verhalten, wie wir es uns selbst wünschen.

Das Klopapier-Beispiel

Die ungute Wirkung von Angst lässt sich beispielsweise am Thema Klopapier-Knappheit nachvollziehen: Unser Verdauungstrakt arbeitet rein biologisch wie zu den Zeiten vor Corona, als unsere Angst noch kleiner und die Regale mit Toilettenpapier noch gut gefüllt waren. Als das Virus zunehmend näher an unseren Alltag rückte entstand bei einem Teil der Bevölkerung die Angst, dass bestimmte Artikel knapp werden könnten, unter anderem: Klopapier. Diese Angst führt zu einem veränderten Einkaufsverhalten – man kauft lieber gleich mehrere Packungen ein. Damit gibt es eine Angst weniger im Kopf: Klopapier-Versorgung ist erstmal gesichert. Und es entsteht die berühmte „selbsterfüllende Prophezeiung“: die Knappheit eines Produkts wird durch ein verändertes Einkaufsverhalten selbst geschaffen und die Angst somit bestätigt.

Was uns verbindet

Angst wirkt wie ein reißender, unüberbrückbarer Fluß, der zwischen unseren Wünschen und unserem tatsächlichen Verhalten liegt. Das grundlegende Muster ist:

Gewünschtes Verhalten | wird verhindert durch Angst | führt zu tatsächlichem Verhalten“

Wir wünschen uns ein bestimmtes Verhalten (Hilfsbereitschaft, Solidarität, respektvoller Umgang, etc.), haben Angst (dass sich andere nicht so verhalten, dass dieses Verhalten ausgenutzt wird, dass wir uns dadurch angreifbar machen, etc.) und verhalten uns dann aus dieser Angst heraus selbst anders, als wir uns das von uns und unseren Mitmenschen wünschen.

Ein paar Beispiele aus unserem aktuellen Alltag:

Gewünschtes Verhalten: Wir nehmen aufeinander Rücksicht

Angst: Für mich bleibt nichts übrig weil andere keine Rücksicht nehmen

Tatsächliches Verhalten: Wir nehmen keine Rücksicht und kaufen die letzte Packung Nudeln/Klopapier… obwohl wir noch genug zuhause haben

Gewünschtes Verhalten: Wir sind offen und ehrlich zueinander

Angst: Der andere könnte von meiner Meinung verletzt sein oder mich könnte seine Reaktion auf meine Meinung verletzen

Tatsächliches Verhalten: Wir sind nicht offen und ehrlich zueinander sondern reden übereinander statt miteinander oder fressen Ärger in uns hinein

Gewünschtes Verhalten: Wir hören einander zu und respektieren unterschiedliche Meinungen

Angst: Andere verstehen mich und meine Meinung nicht und hören mir nicht richtig zu

Tatsächliches Verhalten: Wir hören zu um dem Gegenüber zu antworten, nicht um ihn zu verstehen. Wir beharren auf unserer Meinung und sind überzeugt, dass sie die einzig richtige ist.

Wie können wir unsere Werte mehr leben?

Egal ob beim Leben unserer Werte oder dem Thema Klopapier – jeder einzelne entscheidet jeden Tag für sich ganz persönlich, ob sein Handeln durch Angst oder durch Vertrauen bestimmt ist. Und ja – Vertrauen kann ausgenutzt werden! Es kann passieren, dass ich mich jemanden anvertraue und er dieses Wissen ausnutzt. Es kann sein, dass ich jemanden ehrlich meine Meinung sage und er mir deshalb beleidigt ist. Es kann passieren, dass ich kein Klopapier horte und dann vor einem leeren Supermarktregal stehe. Trotz all dieser „Gefahren“ – es lohnt sich trotzdem, dass wir damit anfangen. Warum?

Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst. Wer vertraut, bekommt Vertrauen zurück. Nicht sofort, nicht in allen Situationen – aber es beginnt zu wachsen. Es ist der einzige Weg aus einem Teufelskreis, sich selbst anders zu verhalten. Seine Angst zu erkennen, zu akzeptieren, dass sie da ist und trotzdem den Mut zu haben, sich so zu verhalten, wie wir uns das alle wünschen. Dadurch entsteht Veränderung in die richtige Richtung, dadurch schaffen wir eine Zukunft von der wir alle reden, die wir uns alle wünschen. Und jeder hat die Chance und Möglichkeit, durch sein tägliches Handeln zu dieser Zukunft beizutragen. Nur so entsteht mehr Offenheit, Respekt, Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Nur so wächst Vertrauen. Und nur so werden wir in Zukunft auch wieder gut gefüllte Regale in unseren Supermärkten haben. Weil wir darauf vertrauen, dass genug für alle da ist. Weil wir darauf vertrauen, dass wir zusammenstehen und zusammenhalten.

Austausch per Zoom

Jede Woche findet ein Austausch über die aktuelle Situation und die entstehende Zukunft per Zoom statt. Dieser Austausch ist seit dieser Woche Bestandteil der sehr schönen GAIA-Initiative des Presencing Instituts geworden. Im Rahmen dieser Initiative werden unter anderem weltweit so genannte Hubs geschaffen, die regional und überregional einen Beitrag zur jetzt entstehenden Zukunft leisten möchten. Und seit dieser Woche gibt es den Munich Area Hub. Wer Interesse hat, Mitglied dieses Hubs zu werden oder einfach mal bei unserem Zoom-Austausch dabei zu sein möchte schreibt mir bitte per Mail an kontakt@tobiasfriedl.de.